Märchen und Sagen

  • Der Meisterlügner


    Da war auch einmal im Land Ich weiß nicht wo ein König, dem konnte einer das Blaue vom Himmel herunter in die Ohren lügen; er konnte lügen, dass sich die eichenen Balken im Thronsaale bogen - der König hielt alles für wahr; es gab nichts, was ihm zu Ohren kam, das er am Ende nicht doch für möglich gehalten hätte. Viele Jahre war er nun schon König, und mindestens einmal an jedem Tag war es vorgekommen, dass einer seiner Hofleute oder Minister über irgendeine neue Kunde gesagt hatte: "Das ist eine Lüge!" oder: "Das ist faustdick gelogen!" oder: "Das glaubt ja kein Sterblicher!" Da ärgerte sich der König über sich selbst, weil er immer alles für wahr halten musste und noch kein einziges Mal in seinem Leben einem ins Gesicht hatte sagen können: "Du großmäuliger Schelm, das lügst du!" E i n mal wollte er es aber doch sagen können, ehe er starb, und sollte er gleich sein liebstes Kleinod dafür hingeben müssen. Darum ließ er in seinem Reich durch einen Herold verkünden: wer eine so große Lüge tun könne, dass selbst der König sie nicht glaube, der solle seine einzige Tochter, die schöne Prinzessin, zur Frau bekommen.


    Viele edle und unedle Lügenbeutel hatten nun schon versucht, sich mit ihrer Schelmenkunst das Königstöchterlein zu erlügen; doch es war ihnen nicht gelungen. Sie hatten für ihre Dreistigkeit auf sieben Jahre in den dunkeln Turm wandern müssen. Da hörte auch ein wandernder Handwerksgeselle in einer fernen Stadt den Herold die königliche Botschaft ausrufen. Der Geselle hielt sich für einen Erzlügner, dem nicht so leicht einer das Wasser reichen konnte. Zudem dachte er, eines Königs schönes Töchterlein sei ein Preis, um den man schon ein paar saftige Lügen wagen könne, und machte sich also auf den Weg zum Schlosse.


    Als der junge, schmucke Bursche durch das Tor trat und den Torhütern und Dienern Bescheid gab, was er da wolle, rieten ihm alle, keinen Schritt mehr weiter zu gehen. Doch der Handwerksbursche ließ sich nicht einschüchtern und verlangte, vor den König geführt zu werden. Der König saß auf seinem goldenen Throne, ihm zur Seite seine Tochter. Sie war so schön, dass der Bursche die Augen schließen musste, als er sie nur mit einem einzigen Blick gestreift hatte. Der König aber sprach: Drei Lügen will ich dir gestatten. Wenn ich sie aber alle für wahr halte und dich nicht wenigstens einmal einen Lügner heiße, so ist der köstliche Preis hier zu meiner Linken verscherzt, und du siehst für sieben Jahre das Licht der Sonne nicht mehr!" Wie der König aber von dem köstlichen Preis zu seiner Linken sprach, wagte der Bursche noch einmal einen Blick zu der schönen Prinzessin hinüber, und - O Wunder! - die lächelte ihm so freundlich und lieb zu, dass er alles Bangen von sich warf und nicht mehr daran zweifelte, dass er sie noch heute in seine Arme schließen werde.


    "Zum ersten also!" begann der König. Er wies mit seiner ringfunkelnden Hand auf den Boden des Thronsaales, der mit lauter Goldplatten belegt war, und fragte den Handwerksburschen: "Gelt, Junge, so einen kostbaren Boden hast du noch nirgends gesehen?" - "Ei, warum nicht", antwortete der. "Wo?" fragte der König. "In meinem Heimatdorf, das gleich hinter dem gläsernen Wald rechts unterm Mond liegt und Lüg mir eins heißt." - "Und bei wem hast du einen solchen goldenen Boden gesehen?" - "Na, wo auch? Daheim, bei meinem Vater." - "Wer ist denn dein Vater?" - "Ei, wer sollt' er auch sein: der Sauhirt in unserm Dorf." - "Wie viel Säue hat er zu hüten?" - "An die fünftausend." - "Wie lange schon treibt dein Vater auf die Weide?" - "Jetzt geht's gerade ins hundertneunundneunzigste Jahr. " Der König räusperte sich und sagte: "Dass dein Vater in so viel Jahren mit so viel Säuen so viel Geld erspart hat, dass er am Ende in seine Stube einen goldenen Boden hat legen lassen können, das glaub' ich gerne; denn Sau- hirt sein ist verdienstlich."


    Der König schmunzelte spöttisch, weil die erste Lüge für ihn nicht groß genug gewesen war. Doch der Bursche ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. "Zum andern denn!" fuhr drauf der König fort, wies mit der Hand nach dem Fenster und sprach: "Geh dorthin und schau in den Garten hinab! Hast du deiner Lebtage schon einmal so große Rüben gesehen?" - "O jemine!" versetzte der kecke Geselle, "da sind die Euren vertrocknete Setzlinge gegenüber denen, die ich heut vor neunundneunzig Jahren weit hinterm Nirgends meer im Land Eckumeck gesehen habe. Selbige sind so groß gewesen, dass unter ihrem Krautwerk sechzehntausend Soldaten beim größten Wolkenbruch unterstehen konnten, und ist keiner auch nur einen Tropfen nass geworden." Der König räusperte sich zweimal und sagte: "Nun ja, kann sich ein Schweinehirt einen goldenen Fußboden in seiner Stube leisten, so können auch im Land Eckumeck hinterm Nirgendsmeer so große Rüben wachsen. Was ist nicht alles möglich unter der Sonne !?"


    Der König lächelte noch spöttischer als beim ersten Male. Und sogleich hob er wieder seine Hand und wies nach dem Fenster auf der andern Seite des Saales. Dann sagte er: "Zum dritten also! Geh dort hinüber und sieh dir die Tanne in meinem Park an. Hast du je einmal auf deinen Wanderfahrten eine so hohe Tanne angetroffen?" Der lustige Geselle, der voller Lügen steckte, besann sieh rasch auf eine, die so grausam erlogen war, dass es gewiss auf der ganzen Welt keinen Menschen gab, der sie glaubte, und begann tapfer und mit prahlerischer Stimme zu erzählen: "O du meine Güte! Das hier? Das ist ja nur ein Besenreis gegen das, was ich im Himmeleieieigebirge einmal an Tannen gesehen habe! Ich habe wundershalber probiert, wie hoch die höchste wohl sein möge. Habe mir also zweiundzwanzigtausend Sparrennägel gekauft und sie einen nach dem andern in den Stamm geschlagen und bin drauf gipfelwärts geklettert. Denkt Euch! Da bin ich bis in den siebten Himmel hinaufgekommen, und die Tannenwipfel waren immer noch nicht zu sehen. Weil ich nun doch schon einmal da war, dachte ich, ich könnte mir auch den Himmel ein bisschen ansehen. Fand viele alte Bekannte aus Lügmireins und aus dem Lande Eckumeck vor und erzählte ihnen, dass ich, eh' ein Jahr vergangen, des Königs schönes Töchterlein im Land Ich weiß nicht wo als Gemahlin heimführen werde. Und sie glaubten mir alle bei ihrer Seele Seligkeit und wünschten mir von Herzen Glück dazu. Sie hätten mich gar zu gerne zum Nachtessen eingeladen, aber ich war drauf bedacht, vor dem Dunkelwerden wieder in die Welt hinabzurutschen, und empfahl mich. Ich habe aber ums Leben nicht mehr die Tanne gefunden, auf der ich heraufgestiegen bin, und hatte drum im Sinn, im Himmel ein verstecktes Plätzchen zum Nachtlager zu suchen. Wie ich da nun so herumstolperte, stieß ich von ungefähr an ein Bollenfaß. Sah hinein und bemerkte, dass es ein gut Stück über den Rand hinaus voll war mit Weizenkleie. Holla! hab' ich gedacht, du kommst mir gerade recht! Habe aus der Kleie ein Seil geflochten, es mit einem Dutzend übriggebliebenen Nägeln am Himmelsfenster festgenagelt und mich an dem Kleieseil allmählich auf die Welt herabgelassen. Wie ich aber noch weit über den allerobersten Wolken gewesen bin, ist das Trumm ausgegangen. Jetzt was tun? Nun, ich hab' halt keine andere Wahl gehabt, als das Seil oben abzuschneiden und unten an den Rest wieder anzuknüpfen. Bis ich aber endlich auf festem Boden und geradeswegs vor dem Tor zu Eurem königlichen Palast angekommen bin, hat das Seil - Ihr mögt mir's glauben oder nicht! - nur noch aus lauter Knöpfen bestanden."


    Da fuhr der König aus seinem Thronsessel auf und rief: "Das ist ja eine Lüge so groß wie das Seil, das du mir da vom Himmel heruntergelogen!" - "Gut", erwiderte freudestrahlend der Handwerksbursche, "und also bin ich Euer Tochtermann!", nahm die schöne Prinzessin, die ihn gar liebreich anlachte, bei der Hand und gab ihr den Verlobungskuss. Dann trat das glückliche Paar vor den König, und der legte ihre Hände ineinander, nahm die Krone von seinem grauen Haupt und drückte sie dem wackeren Gesellen in die Locken. Und so ist der Meisterlügner König im Lande Ich weiß nicht wo geworden.

    Sprich nie ein hartes Wort, womit Du jemanden kränkst. Du triffst vielleicht sein Herz, viel tiefer als Du denkst .

  • Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein


    Es war eine Frau, die hatte drei Töchter, davon hieß die älteste Einäuglein, weil sie nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn hatte, und die mittelste Zweiäuglein, weil sie zwei Augen hatte wie andere Menschen, und die jüngste Dreiäuglein, weil sie drei Augen hatte, und das dritte stand bei ihr gleichfalls mitten auf der Stirn. Darum aber, daß Zweiäuglein nicht anders aussah als andere Menschenkinder, konnten es die Schwestern und die Mutter nicht leiden. Sie sprachen zu ihm: "Du mit deinen zwei Augen bist nicht besser als das gemeine Volk, du gehörst nicht zu uns." Sie stießen es herum und warfen ihm schlechte Kleider hin und gaben ihm nicht mehr zu essen, als was sie übrig ließen, und taten ihm Herzeleid an, wo sie nur konnten.


    Es trug sich zu, daß Zweiäuglein hinaus ins Feld gehen und die Ziege hüten mußte, aber noch ganz hungrig war, weil ihm seine Schwestern so wenig zu essen gegeben hatten. Da setzte es sich auf einen Rain und fing an zu weinen und so zu weinen, daß zwei Bächlein aus seinen Augen herabflossen. Und wie es in seinem Jammer einmal aufblickte, stand eine Frau neben ihm, die fragte: ,,Zweiäuglein, was weinst du?" Zweiäuglein antwortete: ,,Soll ich nicht weinen? Weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich aus einer Ecke in die andere, werfen mir alte Kleider hin und geben mir nichts zu essen, als was sie übriglassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin." Sprach die weise Frau: ,,Zweiäuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege:



    ,Zicklein, meck,


    Tischlein, deck',



    so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das schönste Essen darauf, daß du essen kannst, soviel du Lust hast. Und wenn du satt bist und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur:



    ,Zicklein, meck,


    Tischlein, weg',



    so wird's vor deinen Augen verschwinden." Darauf ging die weise Frau fort. Zweiäuglein aber dachte: ,,Ich muß gleich einmal versuchen, ob es wahr ist, was sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr", und sprach:



    ,,Zicklein, meck,


    Tischlein, deck",



    und kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und silbernem Löffel, die schönsten Speisen standen rundherum, rauchten und waren noch warm, als wären sie eben aus der Küche gekommen. Da sagte Zweiäuglein das kürzeste Gebet her, das es wußte: ,,Herr Gott, sei unser Gast zu aller Zeit, Amen", langte zu und ließ sich's wohl schmecken. Und als es satt war, sprach es, wie die weise Frau gelehrt hatte:



    ,,Zicklein, meck,


    Tischlein, weg.



    Alsbald war das Tischlein und alles, was darauf stand, wieder verschwunden. "Das ist ein schöner Haushalt", dachte Zweiäuglein und war ganz vergnügt und guter Dinge.


    Abends als es mit seiner Ziege heimkam, fand es ein irdenes Schüsselchen mit Essen, das ihm die Schwestern hingestellt hatten, aber es rührte nichts an. Am andern Tag zog es mit seiner Ziege wieder hinaus und ließ die paar Brocken, die ihm gereicht wurden, liegen. Das erstemal und das zweitemal beachteten es die Schwestern gar nicht; wie es aber jedesmal geschah, merkten sie auf und sprachen: "Es ist nicht richtig mit dem Zweiäuglein, das läßt jedesmal das Essen stehen und hat doch sonst alles aufgezehrt, was ihm gereicht wurde; das muß andere Wege gefunden haben." Damit sie aber hinter die Wahrheit kämen, sollte Einäuglein mitgehen, wenn Zweiäuglein die Ziege auf die Weide trieb, und sollte achten, was es da vorhätte, und ob ihm jemand etwas Essen und Trinken brächte.


    Als sich nun Zweiäuglein wieder aufmachte, trat Einäuglein zu ihm und sprach: ,,Ich will mit ins Feld und sehen, daß die Ziege auch recht gehütet und ins Futter getrieben wird." Aber Zweiäuglein merkte, was Einäuglein im Sinne hatte, und trieb die Ziege hinaus ins hohe Gras und sprach: ,,Komm, Einäuglein, wir wollen uns hinsetzen, ich will dir was vorsingen." Einäuglein setzte sich hin und war von dem ungewohnten Weg und von der Sonnenhitze müde, und Zweiäuglein sang immer:



    "Einäuglein, wachst du?


    Einäuglein, schläfst du?"



    Da tat Einäuglein das eine Auge zu und schlief ein. Und als Zweiäuglein sah, daß Einäuglein fest schlief und nichts verraten konnte, sprach es:



    ,,Zicklein, meck,


    Tischlein, deck",



    und setzte sich an sein Tischlein und aß und trank, bis es satt war, dann rief es wieder:



    Zicklein, meck,


    Tischlein, weg",



    und alles war augenblicklich verschwunden. Zweiäuglein weckte nun Einäuglein und sprach: "Einäuglein, du willst hüten und schläfts dabei ein, derweil hätte die Ziege in alle Welt laufen können; komm, wir wollen nach Hause gehen." Da gingen sie nach Hause und Zweiäuglein ließ wieder sein Schüsselchen unangerührt stehen, und Einäuglein konnte der Mutter nicht verraten, warum es nicht essen wollte, und sagte zu seiner Entschuldigung: ,,Ich war draußen eingeschlafen."


    Am andern Tag sprach die Mutter zu Dreiäuglein: "Diesmal sollst du mitgehen und achthaben, ob Zweiäuglein draußen ißt und ob ihm jemand Essen und Trinken bringt, denn essen und trinken muß es heimlich." Da trat Dreiäuglein zum Zweiäuglein und sprach: "Ich will mitgehen und sehen, ob auch die Ziege recht gehütet und ins Futter getrieben wird." Aber Zweiäuglein merkte, was Dreiäuglein im Sinne hatte, und trieb die Ziege hinaus ins hohe Gras und sprach: ,,Wir wollen uns dahin setzen, Dreiäuglein' ich will dir was vorsingen." Dreiäuglein setzte sich und war müde von dem Weg und der Sonnenhitze, und Zweiäuglein hob wieder das vorige Liedlein an und sang: "Dreiäuglein, wachst du?" Aber, statt daß es nun singen mußte: "Dreiäuglein, schläfst du?" sang es aus Unbedachtsamkeit: ,,Zweiäuglein, schläfst du?" und sang immer:



    "Dreiäuglein, wachst du?


    Zweiäuglein, schläfst du?"



    Da fielen dem Dreiäuglein seine zwei Augen zu und schliefen, aber das dritte, weil es von dem Sprüchlein nicht angeredet war, schlief nicht ein. Zwar tat es Dreiäuglein zu, aber nur aus List, gleich als schliefe es auch damit, doch blinzelte es und konnte alles gar wohl sehen. Und als Zweiäuglein meinte, Dreiäuglein schliefe fest, sagte es sein Sprüchlein:



    ,,Zicklein, meck,


    Tischlein, deck",



    aß und trank nach Herzenslust und hieß dann das Tischlein wieder fortgehen:



    ,,Zicklein, meck,


    Tischlein, weg",



    und Dreiäuglein hatte alles mit angesehen. Da kam Zweiäuglein zu ihm, weckte es und sprach: ,,Ei, Dreiäuglein, bist du eingeschlafen? Du kannst gut hüten! Komm, wir wollen heimgehen." Und als sie nach Hause kamen, aß Zweiäuglein wieder nicht, und Dreiäuglein sprach zur Mutter: ,,Ich weiß nun, warum das hochmütige Ding nicht ißt. Wenn sie draußen zur Ziege spricht:



    ,Zicklein, meck,


    Tischlein, deck',



    so steht ein Tischlein vor ihr, das ist mit dem besten Essen besetzt, viel besser, als wir's hier haben; und wenn sie satt ist, so spricht sie:



    ,Zicklein, meck,


    Tischlein, weg',



    und alles ist wieder verschwunden. Ich habe alles genau mit angesehen. Zwei Augen hatte sie mir mit einem Sprüchlein eingeschläfert, aber das eine auf der Stirn, das war zum Glück wachgeblieben." Da rief die neidische Mutter: ,,Willst du's besser haben als wir? Die Lust soll dir vergehen!" Sie holte ein Schlachtmesser und stieß es der Ziege ins Herz, daß sie tot hinfiel.


    Als Zweiäuglein das sah, ging es voll Trauer hinaus, setzte sich auf den Feldrain und weinte seine bitteren Tränen. Da stand auf einmal die weise Frau wieder neben ihm und sprach: "Zweiäuglein, was weinst du?" - "Soll ich nicht weinen?" antwortete es. "Die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich Euer Spruchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter totgestochen; nun muß ich wieder Hunger und Kummer leiden." Die weise Frau sprach: "Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rat erteilen, bitt' deine Schwestern, daß sie dir das Eingeweide von der geschlachteten Ziege geben und vergrab es vor der Haustür in die Erde, so wird's dein Glück sein." Da verschwand sie, und Zweiäuglein ging heim und sprach zu den Schwestern: "Liebe Schwestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur das Eingeweide." Da lachten sie und sprachen: ,,Kannst du haben, wenn du weiter nichts willst." Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide und vergrub's abends in aller Stille nach dem Rate der weisen Frau vor der Haustür.


    Am andern Morgen, als sie insgesamt erwachten und vor die Haustür traten, stand da ein wunderbarer, prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold hingen dazwischen, daß wohl nichts Schöneres und Köstlicheres auf der weiten Welt war. Sie wußten aber nicht, wie der Baum in der Nacht dahingekommen war, nur Zweiäuglein merkte, daß er aus dem Eingeweide der Ziege aufgewachsen war, denn er stand gerade da, wo sie es in die Erde begraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein: ,,Steig hinauf, mein Kind, und brich uns die Früchte von dem Baume ab." Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen äpfeln greifen wollte, fuhr ihm der Zweig aus den Händen; und das geschah jedesmal, so daß es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mochte sich anstellen, wie es wollte. Da sprach die Mutter: "Dreiäuglein' steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen als Einäuglein." Einäuglein rutschte herunter, und Dreiäuglein stieg hinauf. Aber Dreiäuglein war nicht geschickter und mochte schauen, wie es wollte, die goldenen äpfel wichen immer zurück. Endlich war die Mutter ungeduldig und stieg selbst hinauf, konnte aber so wenig wie Einäuglein und Dreiäuglein die Frucht fassen und griff immer in die leere Luft. Da sprach Zweiäuglein: ,,Ich will mich einmal hinaufmachen, vielleicht gelingt mir's eher." Die Schwestern riefen zwar: "Du mit deinen zwei Augen, was willst du wohl!" Aber Zweiäuglein stieg hinauf, und die goldenen äpfel zogen sich nicht vor ihm zurück, sondern ließen sich von selbst in seine Hand herab, also daß es einen nach dem andern abpflücken konnte und ein ganzes Schürzchen voll mit herunterbrachte. Die Mutter nahm sie ihm ab, und statt daß sie, Einäuglein und Dreiäuglein, dafür das arme Zweiäuglein hätten besser behandeln sollen, wurden sie nur neidisch, daß es allein die Früchte holen konnte, und gingen noch härter mit ihm um.


    Es trug sich zu, als sie einmal beisammen an dem Baume standen, daß ein junger Ritter daherkam. ,,Geschwind, Zweiäuglein", riefen die zwei Schwestern, ,,kriech unter, daß wir uns deiner nicht schämen müssen", und stürzten über das arme Zweiäuglein in aller Eile ein leeres Faß, das gerade neben dem Baume stand, und schoben die goldenen äpfel, die es abgebrochen hatte, auch darunter. Als nun der Ritter näherkam, war es ein schöner Herr; der hielt still, bewunderte den prächtigen Baum von Gold und Silber und sprach zu den beiden Schwestern: ,,Wem gehört dieser schöne Baum? Wer mir einen Zweig davon gäbe, könnte dafür verlangen, was er wollte." Da antworteten Einäuglein und Dreiäuglein, der Baum gehörte ihnen zu, und sie wollten ihm einen Zweig wohl abbrechen. Sie gaben sich auch beide große Mühe; aber sie waren dazu nicht imstande, denn die Zweige und Früchte wichen jedesmal vor ihnen zurück. Da sprach der Ritter: "Das ist ja wunderlich, daß der Baum euch zugehört und ihr doch nicht Macht habt, etwas davon abzubrechen." Sie blieben dabei, der Baum wäre ihr Eigentum.


    Während sie aber so sprachen, rollte Zweiäuglein unter dem Fasse ein paar goldene äpfel heraus, so daß sie zu den Füßen des Ritters liefen; denn Zweiäuglein war böse, daß Einäuglein und Dreiäuglein nicht die Wahrheit sagten. Wie der Ritter die äpfel sah, erstaunte er und fragte, wo sie herkämen. Einäuglein und Dreiäuglein antworteten, sie hätten noch eine Schwester; die dürfte sich aber nicht sehen lassen, weil sie nur zwei Augen hätte wie andere gemeine Menschen. Der Ritter aber verlangte sie zu sehen und rief: "Zweiäuglein' komm hervor!" Da kam Zweiäuglein ganz getrost unter dem Fasse hervor, und der Ritter war verwundert über seine große Schönheit und sprach: "Du, Zweiäuglein' kannst mir gewiß einen Zweig von dem Baum abbrechen." - "Ja", antwortete Zweiäuglein' "das will ich wohl können, denn der Baum gehört mir." Und stieg hinauf und brach mit leichter Mühe einen Zweig mit feinen silbernen Blättern und goldenen Früchten ab und reichte ihn dem Ritter hin. Da sprach der Ritter: "Zweiäuglein' was soll ich dafür geben?" - "Ach", antwortete Zweiäuglein, "ich leide Hunger und Durst, Kummer und Not vom frühen Morgen bis zum späten Abend; wenn Ihr mich mitnehmen und erlösen wollt, so wäre ich glücklich." Da hob der Ritter das Zweiäuglein auf sein Pferd und brachte es heim auf sein väterliches Schloß. Dort gab er ihm schöne Kleider, Essen und Trinken nach Herzenslust, und weil er es so liebhatte, ließ er sich mit ihm einsegnen, und die Hochzeit war in großer Freude gehalten.


    Wie nun Zweiäuglein so von dem schönen Rittersrnann fortgeführt ward, da beneideten ihm die zwei Schwestern erst recht sein Glück. "Der wunderbare Baum bleibt doch uns", dachten sie; "können wir auch keine Früchte davon brechen, so wird doch jedermann davor stehenbleiben, zu uns kommen und ihn rühmen. Wer weiß, wo unser Weizen noch blüht!" Aber am andern Morgen war ihr Baum verschwunden und ihre Hoffnung dahin. Und wie Zweiäuglein zu seinem Kämmerlein hinaussah, stand er zu seiner großen Freude davor und war ihm also nachgefolgt.


    Zweiäuglein lebte lange Zeit vergnügt. Einmal kamen zwei arme Frauen zu ihm auf das Schloß und baten um ein Almosen. Da sah ihnen Zweiäuglein ins Gesicht und erkannte ihre Schwestern Einäuglem und Dreiäuglein, die so in Armut geraten waren, daß sie umherziehen und vor den Türen ihr Brot suchen mußten. Zweiäuglein aber hieß sie willkommen und tat ihnen Gutes und pflegte sie, also daß die beiden von Herzen bereuten, was sie ihrer Schwester in der Jugend Böses angetan hatten.


    Sprich nie ein hartes Wort, womit Du jemanden kränkst. Du triffst vielleicht sein Herz, viel tiefer als Du denkst .

  • Der Erbsenmillionär


    Es war einmal eine arme Frau, die hatte einen Sohn. Der fand eines Tages eine Kichererbse und sagte zu seiner Mutter: »Was soll ich mit dieser Erbse anfangen? Wir wollen sie einpflanzen, daß sie viele Erbsen erzeuge, und dann wollen wir diese Erbsen pflanzen, damit jede wieder viele Erbsen hervorbringe.« Dann überlegte er: >Wo soll ich denn alle diese Erbsen unterbringen, die ich bekommen werde?< Und er ging zum König und bat ihn, ihm Lagerräume für seine Erbsen zu geben. Er hatte aber immer nur die eine Erbse.


    Als der König gehört hatte, daß er reich wäre und viele Lagerräume wünsche, um seine Erbsen unterzubringen, sagte er zu der Königin: »Der ist gut dafür, daß wir ihm unsere Tochter zur Frau geben. « Er sagt also zu dem Jüngling, er wollte ihn zu seinem Schwiegersohn machen. Vorher wollte er aber feststellen, ob er wirklich reich und gut gewöhnt sei. Er behielt ihn also bei sich, um ihn im Schlosse schlafen zu lassen. Man gab ihm ein Bett, das war gefüllt mit Hobelspänen. Als er sich schlafen legte, verlor er die Erbse und suchte sie die ganze Nacht; am Morgen fand er sie endlich. Den anderen Abend blieb er wieder im Palast. Man gab ihm jetzt ein schönes Bett mit Polstern; er verlor wieder seine Erbse, fand sie aber gleich wieder und schlief dann ein. Nun sagten sie dem König, daß er die erste Nacht, als er auf den Hobelspänen lag, gar nicht geschlafen habe, aber am zweiten Abend, als er in dem schönen Bett lag, sei er eingeschlafen. Da sagte der König zur Königin: »Wir wollen ihm unsere Tochter geben, er ist wirklich vornehm.« Sie boten sie ihm zur Frau an, und er erklärte sich bereit, sie zu nehmen.


    Die Hochzeit wurde gefeiert, und die junge Frau sagte nun zu ihrem Mann: »Führe mich jetzt in dein Haus; du sagtest ja, daß du schöne Häuser besitzest.« jener aber besaß weiter nichts als die Erbse. Er weinte und jammerte nun, was er tun solle, da er nichts habe, wohin er die Prinzessin führen könne. Schließlich nahm er seine Flinte, ging aufs Feld, setzte sich dort hin und rief seufzend: »0 weh, meine Mira!« Da erschien auf einmal ein Mohr und sagte: »Was willst du? Was du willst, werde ich dir schaffen.« Da begann der zu erzählen: er sei mit einer Prinzessin verheiratet, der er gesagt habe, daß er reich sei, und er habe doch nur eine Erbse. »Jetzt sagt sie zu mir, ich solle sie in mein Haus führen, und ich habe doch keines. « Der Mohr versetzte: »Nimm diese vierzig Schlüssel, und von dort an, wo du deinen Weg antrittst, werden alle Arbeiter in den Weinbergen dir gehören. In einem Jahr wirst du Herr dieses Schlosses sein. Zu diesem Zeitpunkt passe gut auf: ich werde wiederkommen und dir zwölf Rätsel aufgeben, und wenn du sie löst, wird das Schloß dir gehören; wenn nicht, fresse ich dich auf.«


    Der Mann nahm also die Schlüssel und führte seine Frau in das Schloß; dies war schöner als das des Königs und alle Zimmer voll Geld. Er aber gab das Geld den Armen, und bis das Jahr um war, hatte er keine Pendara mehr, weil er alles verteilt hatte. Es kam der Abend, wo er den Mohren erwartete. Diesen Abend erschien ein alter Mann bei ihm und bettelte um Geld, weil er arm sei. jener antwortete: »Ich habe nichts mehr, Alter, ich habe alles verteilt.« Der Greis erwiderte: »So laß mich wenigstens hier schlafen!« Der wollte es erst nicht, weil er fürchtete, daß der Schwarze auch den Alten fressen würde. Aber der Greis versetzte: »Laß mich nur hier schlafen, mein Sohn, und gehe auch du schlafen mit deiner Frau und fürchte dich nicht!« Um Mitternacht kam also der Mohr und rief ihn heraus. Der Greis antwortete statt seiner: »Holla, du da draußen!« Der Mohr fragte: »Bist du bereit, die zwölf Rätsel zu hören?« Der Greis antwortete: »Sage sie!«


    Der Mohr begann: »Was bedeutet die Eins?« Der Greis antwortet:


    »Einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Zwei?« - »Zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Drei?« - »Dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Vier?« - »Viereckig ist das Kreuz; dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Fünf?« - »Fünf Finger hat die Hand; viereckig ist das Kreuz; dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Sechs?« - »Sechs Sterne haben die Plejaden; fünf Finger hat die Hand; viereckig ist das Kreuz; dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Sieben?« - »Aus sieben Jungfrauen besteht der Reigen; sechs Sterne haben die Plejaden; fünf Finger hat die Hand; viereckig ist das Kreuz; dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Acht?« - »Acht Füße hat der Polyp; aus sieben Jungfrauen besteht der Reigen; sechs Sterne haben die Plejaden; f nf Finger hat die Hand; viereckig ist das Kreuz; dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Neun?« - »In neun Monaten wird das Kind geboren; acht Füße hat der Polyp; aus sieben Jungfrauen besteht der Reigen; sechs Sterne haben die Plejaden; f nf Finger hat die Hand; viereckig ist das Kreuz; dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Zehn?« - »Zehn Zehen hat das Schwein; in neun Monaten wird das Kind geboren; acht Füße hat der Polyp; aus sieben Jungfrauen besteht der Reigen; sechs Sterne haben die Plejaden; fünf Finger hat die Hand; viereckig ist das Kreuz; dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    »Was bedeutet die Elf?« - »Um elf Uhr hören die Leute mit Säen auf; zehn Zehen hat das Schwein; in neun Monaten wird das Kind geboren; acht Füße hat der Polyp; aus sieben Jungfrauen besteht der Reigen; sechs Sterne haben die Plejaden; fünf Finger hat die Hand; viereckig ist das Kreuz; dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    "Was bedeutet die Zwölf?« - »Zwölf Monate hat das Jahr; um elf Uhr hören die Leute mit Säen auf; zehn Zehen hat das Schwein; in neun Monaten wird das Kind geboren; acht Füße hat der Polyp; aus sieben Jungfrauen besteht der Reigen; sechs Sterne haben die Plejaden; fünf Finger hat die Hand; viereckig ist das Kreuz; dreigestaltig ist die Gottheit; zwei Hörner hat der Teufel, und einer ist Gott.«


    Als der Alte diese Rätsel gelöst hatte, sagte der Mohr zu ihm: »Du hast gesiegt. Was willst du jetzt?« - »Ich möchte, daß du dreizehn Meilen weit gehst und zerplatzest.« Da verschwand jener, der Greis aber weckte den Jüngling und seine Frau und sagte zu ihnen: »Jetzt fürchtet euch nicht mehr. Alles, was jenem Mohren gehört hat, gehört jetzt euch.« Damit ging der Greis von dannen, und jene lebten glücklich und wir noch glücklicher.

    Sprich nie ein hartes Wort, womit Du jemanden kränkst. Du triffst vielleicht sein Herz, viel tiefer als Du denkst .

  • Das Mädchen und das blutende Bild


    In Limassol soll es sich zugetragen haben, dass Fischer am Hafen in der Nacht ein Licht gesehen haben, das über das Meer auf die Stadt zugewandert ist. Sie haben sich nicht erklären können, was das ist, denn man hat gesehen, dass es sich um kein Schiff handele. Und so sind einige Männer in ein Boot gestiegen und aufs Meer hinausgefahren. Als sie aber in die Nähe des Lichtes gekommen sind, haben sie wahrgenommen, dass da auf dem Wasser eine lkone trieb, von der das Leuchten ausging. Das Bild schwamm aufrecht und nicht flach auf dem Wasser. Die Männer wollten es ins Boot heben, aber es schwamm vor ihnen davon, sooft sie danach griffen. So haben sie sich darauf beschränkt, hinter dem leuchtenden Bild herzufahren.


    Als man am Strand angekommen war, hatten sich dort schon viele Menschen versammelt, unter denen auch ein Mönch war. Dieser hat das Bild aufgenommen und in eine Kirche getragen, wo man die Ikone aufgestellt und verehrt hat.


    Einige Jahrhunderte später hat sich folgendes ereignet: ein türkischer Soldat, der eine große Abneigung gegen Bilder und besonders gegen die lkonen hatte, ist in die Kirche eingedrungen, und er hat mit seinem Säbel auf das Bild eingehauen, und als er mit seinem Säbel die Wange der Panagia verletzte, ist dort Blut herausgeflossen. Im gleichen Augenblick aber hat der Soldat seinen Arm nicht mehr bewegen können: der Arm war gelähmt. Da hat ihn eine große Wut erfasst, und er hat geschworen, dass er dafür sorgen würde, dass die Ikone zerhackt und verbrannt werde. Und in seinem Zorn ist er zu seinen Kameraden in die Kaserne gegangen.


    Als der Soldat die Kirche verlassen hatte, hat das Bild begonnen zu einem Mädchen, das angstvoll alles in der Kirche erlebt hatte, zu sprechen. Die Panagia hat gesagt: »Liebes Kind, nimm mich unbesorgt und trage mich fort, damit die bösen Soldaten mir und meinem Kinde weiter nichts zuleide tun können!«


    Das Mädchen hat unter Zittern das Bild abgenommen und unter seinem Schal verborgen, dann ist sie damit durch die Stadt gelaufen. Ihr war, als würde die lkone sie führen, und obwohl sie sehr schnell gelaufen ist, hat sie keine Müdigkeit verspürt.


    Als sie außerhalb der Stadt gewesen ist, hat sie in dieser ein großes Lärmen gehört, denn die Türken waren zornig, dass sie das Bild nicht mehr gefunden haben, und aus Rache haben sie die Kirche angezündet. Das Mädchen aber ist ins Gebirge hinauf gelaufen, immer höher bis zu einem Kloster unterhalb des Gipfels Troodos. Dort hat die Panagia gesagt: »Trage mich in die Kirche des Klosters hinein, denn dort werde ich in Sicherheit sein.« Und das Mädchen hat alles so gemacht, wie es ihr gesagt wurde.


    Und nachdem die lkone im Kloster der Panagia Trooditissa ihren Platz gefunden hatte, hat sie noch einmal zu dem Mädchen gesprochen: »Du hast mich hier herauf getragen. Nun wische mir mit deinem Schal das Blut ab, damit mein Gesicht wieder rein und makellos ist! « Da hat das Mädchen seinen Schal genommen, und nachdem sie das Blut der heiligen Jungfrau abgewischt hatte, konnte sie zu ihrer Freude sehen, dass das Antlitz der Panagia sich auf dem Tuch abgebildet hatte, aber nur das Gesicht und sonst nichts.


    Das Mädchen ist dann heimgegangen und hat den Schal mit dem Abbild der Panagia an der Wand aufgehängt. jeden Tag hat sie dort davor gebetet.


    Eines Abends aber, als sie ihr Nachtgebet vor der Panagia gesprochen hat, da hat die heilige Jungfrau wieder begonnen zu sprechen: » Liebes Kind, wir müssen wieder fliehen, denn heute nacht werden die Türken landen, und sie werden rauben und plündern, und wenn du nicht mit mir fliehst, werden sie dich mitnehmen und als Sklavin verkaufen.«


    Da hat das Mädchen einen großen Tragkorb genommen, und sie hat ihre wichtigsten und wertvollsten Sachen hineingepackt, und obenauf hat sie das Abbild gelegt, und dann hat sie den Korb auf den Kopf genommen und hat sich im Dunkeln aus der Stadt entfernt. Und wie sie in einiger Entfernung davon gewesen ist, hat sie Kanonenschüsse und Flintenschüsse gehört, und sie ist weiter in das Gebirge hineingeflohen.


    In allen Dingen aber hat ihr die Panagia weitergeraten, und sie hat ihr später auch zu einem braven Mann verholfen. Und das Mädchen hat nichts getan, ohne vorher die Panagia zu fragen.


    Wohin der Abdruck dieses Bildes gekommen ist, weiß ich nicht, aber die lkone selbst ist immer noch im Kloster der Panagia Trooditissa, und die Mönche haben später das Gesicht bedeckt und den Leib mit einem Silberrelief bedeckt und noch ein Brokattuch darübergegeben, damit niemand das Bild selbst verletzten könne. Und man erzählt sich, dass derjenige blind würde, der unerlaubt das Bild enthülle.


    Soviel weiß ich von der Sache. Es gibt aber auch Mönche, welche meinen, dass sich diese Geschichte mit dem blutenden Bild und mit dem Mädchen nicht auf die Panagia Trooditissa bezöge, sondern auf die Panagia Chrysorroyitissa (vom goldenen Granatapfel) beim Dorfe Galataria. Auch erzählt man sich, nicht Fischer, sondern ein Mönch namens Ignatios habe eines Nachts von seinem Berge aus das Leuchten auf dem Meere bemerkt, und als er zum Wasser hinuntergestiegen sei, habe er dort am Ufer das Bild der Panagia gefunden, das vor den Bilderstürmern auf dem Festland geflohen sei.


    Mir scheint jedoch, dass die Geschichte von dem Bild und dem Mädchen die echte ist, denn von dem Mädchen und von dem sprechenden Abbild auf dem Tuch hat man sich noch lange erzählt, und den verdorrten Arm des Türken, welcher das Bild verletzt hatte, zeigt man noch im Kloster der Panagia Trooditissa.

    Sprich nie ein hartes Wort, womit Du jemanden kränkst. Du triffst vielleicht sein Herz, viel tiefer als Du denkst .

  • Das Donauweibchen"
    Als Wien noch klein und von Mauern umgeben was, floss die Donau in vielen Armen zwischen Auwäldern dahin. Im Winter trieben oft mächtige Eisschollen auf dem Strom.


    In manchen Frühjahren traten die Wasser über die Ufer und überfluteten die Auen. Dann flüchteten die Fischer aus ihren Hütten in die Stadt. Kaum sank aber das Wasser wieder, so wanderten sie an den Strom zurück, kehrten den Schlamm aus den Stuben, suchten ihre Netze und Boote und gingen von neuem ihrer schweren Arbeit nach.


    Einst lebte in einer der Hütten ein alter Fischer mit seinem Sohn. Der Alte kannte die Plätze, wo die schönsten Fische zu fangen waren. In seinem Strohsack hatte er einen prallen Beutel mit Goldgulden versteckt, die er mit seinen Fischen auf dem Markt in der Stadt verdient hatte. Man erzählte von ihm, dass er als junger Bursche einen riesigen Fisch mit silbernen Schuppen und einem goldenen Krönlein gefangen habe.


    Als dem Alten dieses Gerücht zu Ohren kam, lachte er und stritt ab, je einen solchen Fisch gesehen zu haben. Der Sohn war trotz seiner Jugend schon ein sehr guter Fischer wie sein Vater. Er ging aber gar nicht gerne in die Stadt und auf den Markt. Viel lieber saß er in seinem Boot und hörte dem Rauschen der Wellen zu, sah, wie die Baumkronen sich im Winde wiegte, freute sich an dem Gesang der Vögel und an der Farbe und dem Duft der Blumen.


    An einem kalten Winterabend saßen Vater und Sohn in der Hütte beisammen. Ein kleines Feuer flackerte auf dem Herd In diesem spärlichen Licht flickten die beiden ihre Netze und sprachen vom kommenden Frühling.


    Plötzlich war es, als risse der Wind die Tür auf. Es wurde taghell in der Stube, und vor den beiden Männern stand ein liebliches, weißgekleidetes Mädchen mit Wasserrosen im Haar.


    Die Fischer erschraken.
    Aber das Mädchen sprach mit zarter Stimme, die wie das Rieseln des Wassers klang.:


    "Fürchtet euch nicht! Ich bin euch gut gesinnt. Deshalb will ich euch warnen. Schon morgen schmilzt das Eis, der Strom wird überfließen und diese Hütte hier überschwemmen. Flieht, so rasch ihr könnt!"


    Ehe die beiden Fischer ein Wort erwidern konnten, war es wieder dunkel im Raum, nur der warme Tauwind rüttelte an der offenen Tür. Der junge Fischer sprang hin, um dem Mädchen noch einen Dank nachzurufen, aber auch draußen konnte er es nicht mehr erblicken.


    Unverzüglich verständigten die beiden ihre Kameraden in den umliegenden Hütten, und im frühesten Morgengrauen verließen alle Fischer die Gegend und zogen in die Stadt.


    Und es geschah, wie das Mädchen es vorausgesagt hatte. Das Eis zerging im warmen Wind. Schon in der nächsten Nacht stieg das Wasser und begann die Auen zu überfluten. Es drang in die Fischerhütten ein und nahm mit, was die Bewohner an Hausrat zurückgelassen hatten. Aber Menschenleben war keines zu beklagen, denn alle Bewohner hatten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht.


    Nach einigen Tagen sank das Wasser wieder. Die Fischer kamen zurück, säuberten ihre Wohnungen, und bald verrieten nur noch die hellen Streifen an den Baumstämmen, wie hoch das Wasser gestanden war.


    Es gab viel Arbeit, und die Fischer dachten nicht mehr an die Nixe. Bloß die Kinder spielten manchmal "Donauweibchen", steckten sich Blumen ins Haar und sagten:


    "Fürchtet euch nicht! Ich bin euch gut gesinnt!"


    Der junge Fischer freilich konnte die Nixe nicht vergessen. Tag und Nacht sah er das zarte Gesicht, das schwarze Haar mit den Seerosen vor sich. War er daheim, so lugte das Donauweibchen zum Fenster herein. Ging er durch die Au, so erschien sie ihm zwischen den Bäumen. Saß er in seinem Boot, so tanzte es zwischen den Wellen empor. Und die liebliche Stimme sprach:


    "Fürchte dich nicht!"


    Aber im nächsten Augenblick war die Erscheinung gleich wieder verschwunden.


    Der junge Fischer wurde immer trauriger und verstörter, und eines Tages sah der Vater das Boot herrenlos auf dem Wasser treiben.


    Er ruderte hin und befand sich auf dem klarsten Wasser, das er je gesehen hatte. Unter sich erblickte er in einem Garten ein herrliches Schloss mit Marmortreppen. Und zwischen den Bäumen wanderten der junge Fischer und die Nixe Hand in Hand dahin.

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